Diebe – Dea Loher richtet ein Panorama von Beschädigung, Tod und Hoffnung als virtuose Tonprobe ein
Mit allen Sprachwassern gewaschen
von Petra Kohse
"Glauben Sie, dass es viele von meiner Sorte gibt. Menschen wie ich, die leben, als lebten sie nicht. Die sich durch ihr eigenes Leben hindurchstehlen, vorsichtig und scheu, als ob ihnen nichts davon gehören würde, als ob sie kein Recht hätten, sich darin aufzuhalten. – Als ob wir Diebe wären." In Dea Lohers neuestem Stück "Diebe" sagt Ira dies zu Erwin.
Ira, die als junge Frau auf der Hochzeitsreise von ihrem Mann verlassen wurde und dann 43 Jahre lang in dem Hotelzimmer, in dem er sie hinterließ, einfach weiterwohnte. Und Erwin, unwilliger Altersheimbewohner und zweifacher Vater erwachsener Kinder, von denen es ihm vor allem um den Sohn Finn zu tun ist, welcher aber nicht nur ihn flieht, sondern das Leben überhaupt. Erwin antwortet: "Ich bin das Gegenteil, ich kann den Dingen nicht ihren Lauf lassen. Ich nicht. – Wahrscheinlich bin ich deswegen immer allein, und bin es bis heute."
Von der Sinnlosigkeit und Schönheit der Dinge
Eine, die sich unter dem eigenen Leben wegduckt und einer, der gegen das Leben ankämpft – in der Szene, in der Dea Loher sie an einer Bushaltestelle zusammenführt, sind die beiden ihren Selbstzuschreibungen aber bereits entkommen. Ira hat ihren Mann nach 43 Jahren endlich als vermisst gemeldet und singt jetzt abends im "Rostigen Anker". Und Erwins Widerstand gegen den Lauf der Dinge ist eigentlich nur noch Pose. Hier hat die Zeit einmal Wunden geheilt (oder ist zumindest dabei) – ein neuartiger Lichtschein in einem Stück von Dea Loher. Auch sprachlich ist dieser Dialog wie erlöst. Ohne Zusatzgewichte unterhalten sich Ira und Erwin einander zugetan und aufeinander bezogen.
"Diebe" ist das siebzehnte Stück der 46-jährigen Autorin, die eine der konsequentesten Dramatikerinnen deutscher Sprache ist. Konsequent, weil die Theatertexte ihr Haupt- und Lebenswerk sind. Weil sie tatsächlich Stück für Stück "auf der Gleichzeitigkeit und Unverständlichkeit, Sinnlosigkeit und Schönheit der Dinge in der Welt beharrt", wie sie im Programmheft des Deutschen Theaters zu Andreas Kriegenburgs Berliner Uraufführung von "Diebe" schreibt. Und weil sie diese Dinge mit immer größerer Sprachmacht zu fassen vermag.
Tonproben
Werkgeschichtlich ist der Optimismus der Ira-und-Erwin-Szene wirklich eine Nachricht. Nach der antikischen Wucht, mit der Dea Loher in "Das letzte Feuer" (2008) das Trauma eines Kriegheimkehrers und das der verwaisten Eltern und Nachbarn nach dem Unfalltod eines Kindes in einem kollektiven Sprechen engführte, hielt man das Ende des Individuums in ihren Stücken für besiegelt. Jetzt aber legt sie mit "Diebe" 37 Szenen vor, die nur locker verwoben sind, ein ganzes Panorama von Beziehungen vorführen, nicht nur in Beschädigung und Tod, sondern auch in Entwicklung münden und dabei die verschiedensten Sprecharten anstimmen.
Tatsächlich kann man "Diebe" als eine Art Tonprobe lesen, wobei sich der beste Klang gleich am Anfang findet. In Szene 2 kommt Erwins Tochter Linda von der Arbeit in einem von der Schließung bedrohten Heilbad zurück und möchte gerne jemandem erzählen, dass sie dort auf dem Gelände einen Wolf gesehen hat. Da sie alleine lebt, imaginiert sie sich eine Familiensituation und gleitet vom Epischen ("Ein paar Nachbarn, sie ruft ein paar Nachbarn an, keiner hebt ab.") in ein dialogisches Sprechen zweiter Ordnung über: "Hast du eine Vorstellung, wie dich so ein Tier, so ein Wolfstier ansieht, fragt Linda energisch, zutiefst engagiert./ Da gibt es keine Beruhigung./ Solche Augen kann kein Haustier./ Pause. Sie schnauft./ Solche Augen kann kein Haustier./ Der Mann schweigt. Bestürzt. Was wenn Linda Recht hat. Soll man sich dann freuen oder eher nicht. Steht Wolf für Anfang Neubeginn oder für Abschied Verfall."
Ein fast lüsternes "Wir"
Seit "Unschuld" (2003) experimentiert Dea Loher mit dem (von Fritz Kater aufgebrachten) Sprechen von Figuren über sich selbst in der dritten Person. Die Virtuosität der Linda-Szene liegt darin, dass die Selbstbeschreibung in Dramatik ausdifferenziert wird: Linda ergreift als Autorin ihres eigenen, ungelebten Familienstückes das Wort.
Die Raffinesse und Komplexität dieses auto-auktorialen Monologs wird in den anderen Szenen nicht mehr erreicht. Lindas Bruder Finn, der sich erst in seiner Wohnung isoliert, und dann mit einem Sprung durchs Fenster aus dem Leben verschwindet, beschreibt sein Tun in Prosa. Thomas und Monika, deren Zusammenleben durch die beruflichen Perspektiven bestimmt wird (die es letztlich nicht gibt) pflegen einen beziehungsdramatischen Nebeneinanderton. Das Ehepaar Schmitt, das feststellen muss, dass jemand in den Garten eingedrungen ist, um sie zu beobachten, macht diese Bedrohung zur gemeinsamen Obsession und tritt mit einem fast lüsternen "Wir" auf.
Der sie beobachtet, ist Josef. Josef Erbarmen, ein Bestatter, der in Gerhard Schmitt den unbekannten, weil seinerzeit bloß samenspendenden Vater seiner minderjährigen schwangeren Freundin Mira auszumachen meint. Er will ihn mit Mira zusammenbringen, weil sie das gemeinsame Kind nicht bekommen will, wenn sie ihre eigene Herkunft nicht kennt. Und so dringt der Bestatter mit seiner distinguierten Beratersprache in das fremdes Leben, die fremde Häuslichkeit ein, um dort seinen Tod zu finden: grotesk erschlagen mit Eisenpfanne und Hammer.
Ernte
Im Dialog zwischen Josef und Mira wiederum findet das Aneinandervorbeireden in einer Beiseitesprechtechnik Ausdruck. Mit ihrer Freundin Gabi, einer Boutiquebesitzerin, spricht Mira im rauen, aber zugewandten Volksstückton. Dieser Gabi wiederum steht ein echtes Ich zur Verfügung. Ihr Reden über sich und ihren waschlappigen, aber geldgierigen Freund Rainer alias Tscheki ist ein klassischer Volkstheater-Monolog. Tscheki nähert sich später Linda. Und Gabi und Mira bringen Monika, die mit einer Kugel im Kopf in der Boutique auftaucht, ins Krankenhaus, wo sie Herrn Schmitt als Arzt treffen.
Dea Loher scheut sich nicht, die Probleme mit vollen Händen auszuteilen und die Beziehungsstränge teilweise etwas grob quer über die Bühne zu spannen. An diese Stränge aber hängt sie, wie zum Trocknen, all die sprachlichen Netze, die sie in den letzten Jahren aus ihren eigenen Wassern gezogen hat. Aus dem, in das Rosa in "Unschuld" geht. Aus dem, mit dem Rabe Meiers "Letztes Feuer" vielleicht gelöscht wird. Oder aus dem, das am Ende von "Der dritte Sektor" aus der Tiefkühltruhe läuft.
"Ernte" könnte dieses Stück auch heißen. Weil Dea Loher mit diesem Patchwork-Stück ihre persönliche Ernte einfährt. Ganz ohne Gott und Sonnenschein natürlich. Aber diesmal nicht nur mit Furcht, sondern auch mit etwas Hoffnung.
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