Wolfszeit
Mittwoch, 2. Juni 2010
Wir leben in einer Zeit der Wölfe. Im Tross der Tiere, der durch die in Mülheim präsentierte Neudramatik trottet, sind die Viecher jedenfalls ungewöhnlich zahlreich vorhanden – ein ganzes Rudel besiedelt zurzeit das Ufer der Ruhr. Doch bei genauem Hinsehen gleicht in diesem Rudel kaum ein Wolf dem anderen. Manche traben unruhig auf und ab und blähen ob des unstillbaren Hungers gierig die Nasenlöcher. Andere hinken und schauen traurig herüber. Einer wirkt gar so zahm, dass man versucht ist, ihm den Hals zu kraulen. Es macht schon einen Unterschied, ob man einem Stemann-Wolf, einem Laucke-Wolf oder einem Loher-Wolf gegenübersteht.
Bei Stemann bevölkern Wolfsmasken als kabarettistisch grelle Zeichen die Bühne, ob auf Mikrophrone oder Schauspielerköpfe gestülpt. Dieser Wolf ist der böse Wolf des Kapitalismus, der den Hals nicht voll bekommt und dem kein Kreidefressen mehr zur Engelszunge hilft. Die Wolfsmenschen erheben in blinder Selbstzerstörung blutige Äxte gegeneinander. In ihnen bricht sich die Wolfsnatur der neoliberalen Spezies Bahn, für die jene Schafsköpfe auf Kleinanlegerkörpern leichte Beute und gefundenes Fressen sind.
Um dieses stark-nackige Herrschertier machen die feingliedrigeren Loher- und Laucke-Wölfe eher einen Bogen. Letzterer zieht sogar ein wenig den Schwanz ein. Der Wolf, den Lohers Linda gesehen zu haben glaubt, steht im Gegensatz zur Stemann'schen Rasse nicht für den Typus, der sich durchgesetzt hat, sondern für das geheimnisumwitterte Andere. In seinen Augen flackert das Licht einer neuen Zeit. "Hast du eine Vorstellung, wie dich so ein Tier, so ein Wolfstier ansieht", fragt Linda. "Da gibt es keine Beruhigung./ Solche Augen kann kein Haustier." Doch "soll man sich dann freuen oder eher nicht. Steht Wolf für Anfang Neubeginn oder für Abschied Verfall." Er ist der Vorbote der zurückkehrenden Natur bzw. des Wildparks, der das als Zivilisations-Zeichen fungierende Thermalbad ablösen wird.
Wie bei Loher ist der Wolf auch bei Laucke Signum fortschreitender Versteppung. Menschen gehen, Wölfe kommen. Lauckes dürrer Kreatur steckt allerdings kein bisschen Loher'sche Hoffnung mehr in den Knochen. Kein Zweifel, er kommt als Bote von "Abschied Verfall", wird zur Allegorie der DDR, die in Heiners Kopf genauso wenig sterben will, wie das von ihm angeschossene, aber nicht getötete Tier. Und auch Panzer-Heiner selbst, der sich bei Sandra Strunz zu Anfang aus dem Wolfsfellmantel schält, ist so ein verwundeter Kerl, der nicht mehr von der Stelle kommt. Für Anna ist dieser Wolf ein Mitleidswesen. Beim kläglichen Winseln des Verendenden vergeht sie fast, derweil ihr gegenüber den gefangenen Emigranten im Laster jede "Prise Mitleid" zu viel ist – Empathie in der Schieflage. Versagt wird diesen Flüchtlingen jenes Mitgefühl, das man den durch den Eisernen Vorhang von Ost nach West Flüchtenden einst reichlich entgegenbrachte. Bessere Überlebenschancen für die, die sich den Stemann'schen Wolfspelz überziehen?
Anne Peter, 16:35 Uhr